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Koitus vs. Curarum interruptus.

„Hast du das von dem Atomkraftwerk in der Ukraine gehört?“, schaut mich meine Freundin erwartungsvoll an. „Öhm. Nö. Steht es noch?“, frage ich irritiert nach. Sie hebt die Augenbrauen und ich sehe sie innerlich den Kopf schütteln. „Noch!“, antwortet sie ausdrucksvoll. „Noch!“ und ich kann die Ausrufezeichen hinter kurzen Satz sehen. „Aber wer weiß wie lange. Und dann?“ „Ja.“, meine ich achselzuckend. „Was dann? Darüber denke ich nach, wenn es so weit ist. Vorher bleibe ich ganz entspannt.“

Gefahr ist real. Angst ist freiwillig. Sorgen sind sinnlos.

Diesen Spruch habe ich mal gelesen und er ist mir so bedeutsam geworden, dass ich ihn an dieser Stelle gern weitergeben möchte. An meine Freundin und an alle, die ihn noch nicht kennen.

Ich lese und höre nur ein Minimum an Nachrichten. Gerade so viel, dass ich kurz aus meiner Bubble auftauchen, mich informieren und dann wieder abtauchen kann. Und wenn mir die Headlines der Nachrichten zu laut werden, stelle ich den Ton ab. Heute konnte ich jedoch nicht wegschauen. An der Kasse im Supermarkt, an der ich anstand. Neben mir der Zeitungsständer, aus dem mich direkt eine Schlagzeile von Deutschlands bekanntester Tageszeitung anbrüllte:

Die ZDF-Moderatorin über ihre Gendersprache im Fernsehgarten „Ich muss!“

Das hat mich natürlich interessiert – als Autorin und Texterin. Der knappe Artikel auf Seite 5 hat gereicht, bis die Schlange an der Kasse weiterrückte und mir wieder klar wurde, weshalb ich so wenig Nachrichten höre und lese. Weil die Headline meistens aufgeblasener ist als der Inhalt. Korrekt stand im Text, dass die Moderatorin schon lange gendere. Weil sie will. Aber das nur nebenbei.

Im Übrigen waren die Überschriften der anderen Cover-Artikel nicht weniger reißerisch, und wahrscheinlich noch weniger wertvoll. Das ist meine eigene Wertung, denn gelesen habe ich sie nicht. Zu laut, zu negativ, zu angsteinflößend. Also etwas, was niemand gut gebrauchen kann, wenn die eigene Welt offenbleiben soll. Für den Alltag und das Schöne darin. Ohne ständig Konfetti darüber zu streuen oder in Glitzerwolken abzutauchen. Immer noch realitätsnah. Nur darf ich die eigene Wirklichkeit, das selbstbestimmte Leben, der Alltag so bunt wie möglich gestaltet werden. Wissend, dass auch schwarz und grau darin Platz finden.


Bildzeitung vom 15.08.2022

Angst ist freiwillig. Was nützt ein Fluchtreflex zu einer Situation, die morgen stattfinden könnte? Nichts. Außer Herzrasen auf die unangenehme Art. Und wenn der nächste Tag beginnt, aber das Unheil nicht eintrifft? (Was im Übrigen in über 98 Prozent der Fälle genauso ist.) Dann war die Sorge, die Not, die Aufregung umsonst. Sorgen sind sinnlos. Es ist wie im Schaukelstuhl zu sitzen: du bist beschäftigt, kommst aber nicht voran. Dann lass das Leben doch lieber auf dich zukommen.

Natürlich bin ich nicht sorgenfrei. Ich bin Mutter. Irgendwas ist immer. Aber ich lerne jeden Tag dazu. Ich möchte mich nicht um die Zukunft meines Kindes ängstigen, weil die Sicherheit eines Atomkraftwerks wackelt. Ich möchte eine gute Zeit mit meiner Tochter verbringen, mit Einhörnern um die Wette rennen, Legotürme bauen, im Regen tanzen und ganz viel lachen. Weil wir es heute können. Ich weiß nicht was morgen ist. Keiner weiß was morgen ist. Warum dann Sorgen machen? Warum sich ängstigen? Und an dieser Stelle möchte ich unbedingt darauf hinweisen, dass ich nicht von Angststörungen schreibe und spreche. Das maße ich mir nicht an. Das ist eine ernstzunehmende Krankheit, die nicht einfach schwindet, wenn man die Nachrichten dieser Welt ausblendet.

Ich habe eine Vollkasko-Versicherung für mein Auto, aber nicht für mein Leben abgeschlossen.

Die Versicherung konnte ich wählen – sogar zwischen Klassik oder Premium. Was der Unterschied ist? Nun Premium beinhaltet auch die Absicherung für einen Unfall mit Borstenwild. Klassik schließt nur Haarwild ein. Irrsinn, oder? Das beschreibt den deutschen Normalzustand zwischen Sorge und Bürokratie. Die letztere ist sicher aus der ersten hervorgegangen. Damit Otto, der Durchschnittsdeutsche und das Durchschnittsunternehmen in jeder Hinsicht abgesichert sind. Gegen alles und nichts.

Und klar habe ich Premium gewählt. Wer einmal einen Fuchskopf unter der Motorhaube spazieren fährt, der weiß, wovon ich spreche. Denn das passiert bestimmt ein zweites Mal. Nicht. Aber es könnte. Für 5 Euro mehr im Monat bin ich gegen die Sorge abgesichert, ein Wildschwein als Kühlerfigur nicht bezahlt zu bekommen. Während ich das schreibe, muss ich selbst lachen. Wir sichern uns gegen Sorgen ab, die eintreffen könnten. Ein Spiel mit der Wahrscheinlichkeit. Ich hoffe, mein Versicherungsmakler liest jetzt nicht mit.

Sorgen kreisen und lassen weniger Spielraum für gute Gedanken. Angst dagegen lähmt und ist herunter gebrochen nur ein Gefühl. Ein mächtiges, das ist klar. So mächtig, dass sie am Weitergehen hindern kann. Angst lässt dir keine Flügel wachsen, seit denn du benötigst diese zur Flucht. Dann treiben dich Stresshormone, Adrenalin und Cortisol an, vom Fleck zu kommen. Bevor der Säbelzahntiger dich erwischt. Oder du erstarrst eben. Kommst nicht weiter, schränkst dich ein, schläfst schlecht. Aber wie oft gibt es wirklich Grund zur Sorge, die aus Angst entsteht? In zwei Prozent der Fälle. Übrigens werden 4-18 von 100 Frauen schwanger, die denken, mit Koitus interruptus verhüten zu können. Ein nicht ganz ernst zu nehmender Vergleich, wie sehr man sich in Sicherheit wiegen könnte, wenn man wollte.

Was ich jedoch kann und unbedingt will ist, jeder und jedem zu wünschen, sich nicht von Sorgen und Angst am Leben hindern zu lassen. Wir haben nur dieses eine und keine Vollkasko drauf. Vielleicht wäre ein interruptus vom Sorgenmachen sinnvoll. Ein Curarum interruptus.

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