Respekt
16.30 Uhr mitten in der Woche. Wir sind verabredet, meine Tochter und ich. Mit Kindern und Müttern. Mit Freunden. Die Sonne hat sich durch die Wolken geschoben und trotz der Kälte ist es schön draußen, zu sein. Das finden nicht nur wir. Klettergerüste, Schaukeln und die Rutsche sind fast dauerbelegt und auf den hinteren Bänken hören ein paar Jugendliche laut Musik. Deutsche Musik. Rap. Die Texte sind gewöhnungsbedürftig und ich bin froh, dass meine 2jährige diese nicht versteht.
Ich sage nichts dazu, bitte die Gruppe aus circa vier 16 bis 18jährigen nicht, die Lautstärke zu regeln, sondern hoffe irgendwie, dass sie von selbst merken, wie wenig diese Musik zu dem Ort passt. Und irgendwann höre ich ganz weg und konzentriere mich auf den sonnigen Nachmittag mit meiner Tochter und Freunden. Bis einer rülpst. Laut. Und natürlich schaue ich reflexartig auf. Der Längste der Teenager wirft im selben Moment seine Bierflasche im hohen Bogen in das Gebüsch hinter ihm. Das stößt mir auf. Zu lange schon. Zu oft habe ich kaputte Flaschen von Spielplätzen und Wiesen geräumt, damit sich weder Kinder noch Hunde verletzen. Zu oft habe ich Scherben aus dem Sand gefischt und den Müll anderer beseitigt. Mir reichte es. Und das sagte ich ihm geradewegs ins Gesicht. Ob ihm die Mutti nicht ein wenig Anstand beigebracht hätte? Und dass er die Flasche wieder aus dem Gebüsch angeln solle, schließlich spielen hier Kinder.

Meine Worte beeindruckten den langen Kerl wenig. Er müsse sich von mir nichts sagen lassen, da er in seinem Leben mehr erlebt habe, als ich jemals tun werde. Die beiden Mädchen bitten ihn, Respekt zu zeigen. Doch den kennt er nicht. Ein junger Mann stellt sich an meine Seite und unterstützt mich. Mütter und Kinder schauen zu.
Die Mädchen gehen. Ihnen ist die Situation unangenehm. Sie wollen mit dem Langen nichts mehr zu tun haben. Sein Freund hält sich im Hintergrund. Wir kommen nicht weiter. Nicht mit Worten, nicht mit zornesroten Wangen. Ich bedanke mich bei dem jungen Mann für seine Hilfe und wende mich ab. Hat es etwas gebracht? Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es. Vielleicht denkt er das nächste Mal kurz nach und entsorgt seine Flasche in dem Mülleimer, der abgetreten, aber direkt neben ihm lag. Vielleicht auch nicht.
Respekt. Ein Wort vor dem man sich verbeugen möchte. Doch wer tut das heute schon noch? Wo sind Anstand und Ehrfurcht, wo ist die Rücksicht geblieben? Wenn wir das unseren Kindern nicht vorleben, wer dann? Im echten, wie auch digitalen Leben. Menschen motzen und trollen sich an, sind unzufrieden und miesepetrig. Sie sehen sich als Opfer. Wie auch der Junge vom Spielplatz. Und kommen zu dem Schluss, sich wie eine offene Hose benehmen zu dürfen. Ob nun der sehr ältere Herr in der Kassenschlange vor mir, der die Kassiererin als faule Kuh betitelt, weil sie ihm nicht schnell genug ist, oder die beiden Freunde, die sich auf Facebook angiften, weil der eine den Standpunkt des anderen nicht teilt. Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Ansichten und Blickwinkel hat es schon immer gegeben, aber ich finde, der Ton ist rauer und ungehobelter geworden. Oder auch sichtbarer, durch soziale Netzwerke. Wie so vieles, was man früher eher am Stammtisch oder bei einem Schwatz geklärt hat. Vielleicht lebe ich auch einfach in einer Seifenblase, in der das Gesetz von Anstand und Respekt vor anderem herrscht. Ich mag‘s gern freundlich. So gehe ich auch mit meiner Tochter um und ich wünsche mir, dass sie später für die alte Dame in der Straßenbahn aufsteht, dass sie ihre Flaschen wegbringt und dass die Worte „Bitte“ und „Danke“ in ihrem täglichen Sprachschatz vorkommen. Ich wünsche mir, dass die Welt wieder etwas freundlicher wird und wir uns die Hände reichen.
Ich bin mit meiner Reaktion auf den Jungen nicht ganz glücklich. Was hättet ihr getan? Wie geht es besser?