Eine leere Seite für einen Neuanfang
Lidewij Edelkoort, die niederländische Trendforscherin überlegt, wie wir in Zukunft arbeiten, einkaufen und kommunizieren werden. Ihr (Aus)-Blick ist interessant und gibt Hoffnung. Sie hat in einem Interview mit dem amerikanischen Medium “Dezeen” über die Auswirkungen der Corona-Pandemie gesprochen. Und verraten, warum sie dem Virus trotzdem etwas Positives abgewinnen kann.
„Die lokalen Industrien und Aktivitäten vor Ort werden wieder in den Vordergrund rücken und Initiativen, die von den Menschen selbst ausgehen, werden wichtiger werden, wie Tauschhandel, Open Tables, Bauernmärkte, Straßenfeste und eine DIY-Attitüde.“
Überdenken wir bisheriges
Li Edelkoort
“Das Virus bringt uns dazu, unsere Geschwindigkeit herunterzufahren, keine Flüge mehr zu nehmen, von zu Hause zu arbeiten und uns im Kreise der Familie und engsten Freunde zu beschäftigen; es lehrt uns, genügsamer und achtsamer zu sein. Plötzlich erscheinen uns Fashion Shows bizarr und übertrieben; die Reise-Angebote, die auf unserem Laptop aufploppen, beinahe übergriffig und lächerlich; der Gedanke an zukünftige Projekte ist vage und nicht greifbar: Aber ist all das von Bedeutung? Wir sind jetzt gezwungen, all die Systeme, die wir seit unserer Geburt kennen, zu überdenken – und uns zu fragen, wie unsere Welt ohne sie aussehen würde.”
Entscheidungsfreiheit vs. Besinnung auf das Wesentliche
Li Edelkoort
“Seit einigen Jahren haben wir erkannt, dass wir die Menschheit und unseren Planeten nur dann retten können, wenn wir drakonische Maßnahmen ergreifen, um zu ändern, wie wir leben, reisen, konsumieren und uns entertainen. Wir können nicht weiterhin so viel produzieren und den Überfluss aufrecht erhalten, an den wir uns gewöhnt haben. […] Aber die menschliche Psyche scheint das nicht wahrhaben zu wollen und hofft, dass sich die Dinge von allein lösen, während man abwartet, Zeit verplempert und weiter ‘business as usual’ macht. Der plötzliche Stopp von alldem durch das Virus nimmt uns die Entscheidungsfreiheit aus der Hand und wird die Dinge auf ein gemäßigteres, am Anfang vielleicht beängstigend langsames Tempo zurückbringen. […] Zu improvisieren und kreativ zu sein, wird künftig die wichtigste Fähigkeit sein.
Leider gibt es in dieser Krise keine schnelle Heilung. Sobald das Virus unter Kontrolle ist, werden wir das aufsammeln, was übrig ist, und alles wieder von Null aufbauen müssen. Was das betrifft, bin ich aber voller Hoffnung: auf ein neues, besseres System, in dem menschliche Arbeit und ihre Umstände wieder einen anderen Stellenwert einnehmen. Letztlich werden wir gezwungen, das zu tun, was wir ohnehin schon längst hätten tun sollen. […] In der nächsten Zeit wird rund um die Welt ein Land nach dem anderen in den Shutdown gehen. Wir werden uns an weniger Unterhaltung, weniger Produkte, weniger Newsletter und weniger Pop-ups gewöhnen. Wir werden unsere alten Gewohnheiten ablegen müssen wie bei einem Drogenentzug. Quasi ein Cold Turkey des Shopping. […] Wir werden wieder mit einem simplen Kleid zufrieden sein, alte Lieblinge neu entdecken, ein längst vergessenes Buch zur Hand nehmen und viel kochen, um uns das Leben so schön wie möglich zu machen. Das Virus wird unsere Kultur verändern und essentiell dafür sein, eine alternative und komplett neue Lebensweise aufzubauen.”
Li Edelkoort’s Voraussage: Das Handwerk und der DIY-Attitüde werden wieder Hoffähig.
“Die jüngsten Fotos aus China zeigten, wie zwei Monate ohne Produktion die Luft klärten und die Menschen wieder atmen ließen. Das zeigt, wie sehr unsere Umwelt durch Verlangsamung und Abschalten profitiert, und bestimmt wird das bald in noch größerem Maßstab sichtbar werden. Wenn wir all die Flug- und Schiffsreisen, Urlaubs- und Geschäftsflüge und Transporte mit bedenken, wird der Unterschied wohl gigantisch ausfallen. […] In vielen Unternehmen wurden 90 Prozent aller Güter in China hergestellt, aus auf Erdöl basierenden Substanzen wie Plastik und Polyester. Schon bald werden wir leere Regale von Schuhen, Technikgeräten, Kleidung und sogar Zahnpasta sehen. […] In der Mode läuft die Produktion der neuen Herbst/Winter-Saison schon jetzt nicht mehr nach Plan. […] Es wird also eine Welle mittelmäßiger Produkte auf uns zukommen, die auf altbewährte Erfolgsmechanismen setzt. Andererseits wird aber auch die Einfuhr von billig hergestellten Saris nach Indien und Platik-Haushaltsprodukten nach Afrika entfallen, die lokale Märkte massiv unter Druck gesetzt, zu Arbeitslosigkeit und Verschmutzung geführt hatte. Daraus könnten neue Möglichkeiten für nationale Industrien erwachsen.
Wenn wir also klug sind – was wir leider nicht oft sind – werden wir die Chance nutzen, neue Vorschriften festzulegen, die es den Ländern ermöglichen, sich auf ihr Know-how und ihre spezifischen Qualitäten zu besinnen, und ein Jahrhundert der Kunst und des Handwerks einzuläuten, in dem Handarbeit wieder geschätzt wird. […] Die lokalen Industrien und Aktivitäten vor Ort werden wieder in den Vordergrund rücken und Initiativen, die von den Menschen selbst ausgehen, werden wichtiger werden, wie Tauschhandel, Open Tables, Bauernmärkte, Straßenfeste und eine DIY-Attitüde. Mir scheint, dass meine jüngste Prognose des ‘Age of Amateurs’ schneller kommen könnte, als ich es erwartet habe.”
Das Interview erschien am 9. März 2020 zuerst auf Dezeen und kann hier nachgelesen werden.
Foto by Koen Hauser
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